Mitten in der Stadt

Annette Marks Bilder geben der Passion Christi neue Aktualität

Meist stehen sie an abgeschiedenen Wegen oder führen über Treppengänge heraus aus städtischem Getümmel zu ruhig gelegenen Kapellen: Kreuzwegstationen werden vor allem in katholischen Kirchen als Bilder oder in katholisch geprägten Regionen aufgestellt. Sie mahnen zum Innehalten, Atemschöpfen, Hinsehen und sollen helfen, sich in den Leidensweg Christi hineinzuversetzen. Sie sind eher nicht auf großen Fahnen vor Gebäuden oder an Straßenecken der City angebracht. Im Gegensatz dazu wird in der Innenstadt von Wuppertal-Elberfeld in diesem Jahr der Kreuzweg nicht die Menschen aus dem Alltag herausführen, sondern direkt im Einkaufs- und Berufsgeschehen zu ihnen kommen.
„In der Fastenzeit des Jahres 2014 kehrt der Kreuzweg zurück in die Öffentlichkeit der Stadt“, heißt es im Informationsheft der Katholischen Citykirche Wuppertal. Werner Kleine, Pastoralreferent der Citykirche im Erzbistum Köln, bereitet eine außergewöhnliche Kunstaktion mit der Wuppertaler Malerin Annette Marks vor. Sie hat zu den traditionellen Themen des Kreuzwegs acht monumentale Ölbilder geschaffen, die während der kommenden Fasten- und Osterzeit in der Kirche Sankt Laurentius ausgestellt werden.
Da aber vor fast 2000 Jahren die Passion und Kreuzigung Christi in der damaligen Weltstadt Jerusalem in aller Öffentlichkeit stattfand, sollen ihre Bilder auch im öffentlichen Raum der Stadt zu sehen sein: Großformatige Reproduktionen werden ab dem 6. März (19 Uhr) dort gezeigt, wo sich auch die Stationen der Prozession der Italienischen Gemeinde befinden, die am Karfreitag von der Kirche Sankt Laurentius aus bis zur Hardtbühne an das Geschehen um Leiden und Tod Christi erinnert.
Werner Kleine lernte 2011 die Bilder von Annette Marks in der Regionaldirektion Wuppertal der AOK Rheinland kennen. „Ich besuchte damals mit der Künstlerin die Ausstellung und fühlte mich in vielen Bildern entfernt an Chagall erinnert“, sagt Kleine. „Figuren schweben und fliegen. Die leuchtenden Farben ziehen den Blick sofort im Vorübergehen an, mit dem Ausdruck von Bewegung und Gesichtern kann ich mich identifizieren. Wenn ich aber länger auf die Bilder schaue, fordern sie mich zu einer intensiven Auseinandersetzung auf.“
Nach der Graffitikrippe, die Martin Heuwold im Jahr 2010 auf dem Laurentiusplatz erstellt hatte, hatte Annette Marks den Pastoralreferenten angesprochen und ihm kam in der Ausstellung unmittelbar die Idee, dass diese Künstlerin in Bildern die Passion Christi neu erzählen könnte.
Annette Marks stellte sich der Herausforderung, begann mit dem Lesen des Neuen Testaments, besuchte theologische Vorlesungen und lernte Traditionen von Kreuzwegstationen kennen, um sie dann mit ihrer eigenen malerischen Sprache darzustellen. Diese schöpft aus den Formen und Farben der Moderne, erinnert bewusst an den gegenständlichen und abstrakten Expressionismus, auch an die träumerische Welt der Surrealisten, an die Symbol- und Allegorie-Darstellungen von Renaissance und Barock und gewinnt dadurch assoziative Energien, die beim Betrachten sogleich Erinnerungen und tiefes Erstaunen wecken.
Wenn wir auf dem Bild von der Begegnung des Ungläubigen Thomas mit dem Auferstandenen eine junge Frau sehen, die sogleich ihr Smartphone zum Fotografieren zückt, dann hat Annette Marks eine Möglichkeit gefunden, das „Wunder“ der Auferstehung, seiner Unfassbarkeit im Zeitgestus des Thomas‘ sichtbar zu machen, denn das Fotografierte ist im Bild unsichtbar (siehe Bild Seite 6).
Das Geschehen selbst findet in vom leuchtenden Simultankontrast der Komplimentärfarben Orange und Blau gefärbten Rechteckfeldern statt, die durch eine diagonal gelegte Begrenzung und der dazu rechtwinklig gezeigten Schrittstellung des rechten Beins der Erlöserfigur im unteren Bildfeld den Eindruck von einer vagen Tiefenräumlichkeit illusionieren. Die wie von einem inneren, vibrierenden Rhythmus erfassten Farbflecken seines Körpers nehmen tieferes Blau und Rot auf. Das Bild vereint so die Statik der Raum-Flächenkonzeption mit der Dynamik der bewegten Farbgebung.
Verzerrte und gekrümmte Figuren, wie wir sie aus den Werken Emil Noldes, Ernst Ludwig Kirchners und Max Beckmanns kennen, prägen die Begegnung zwischen Pilatus und Christus, die den Gepeinigten mit einer Krone aus sechs spitzen, scharfen Stacheln zeigt – im beschmutzten Rot von Turnhemd und Turnhose vor türkisgrünem Bildgrund. Vor diesem breiten sich weiß- bis grau- und gelbgrüne Farbflecken wie Schweiß- oder Atemdampfspuren aus (siehe das Bild auf dieser Seite).
Die Oberkörper von Christus und Pilatus bilden mit ihren gebeugten Hüften und Beinen die Seiten eines Parallelogramms. Parallel verlaufen auch die Haltungen ihrer Arme, womit sie wie magnetisch aufeinander bezogen wirken. Christus ist als Rückenfigur dargestellt, Pilatus schaut aus dem Bild heraus auf die Betrachter. Die Farbe seines gegürteten Römerkittels korrespondiert mit dem Weißton der Podestfläche für den Gemarterten. Der linke Fuß des Pilatus überschneidet die Podestgrenze – Annette Marks macht in diesem Gestus die innere Verbindung beider Figuren sichtbar und zerstört zugleich den Eindruck der Tiefenräumlichkeit. Kubistische Konstruktion, realistische Erzählung und die Mittel informeller Malerei bilden eine faszinierende Synthese.
„Ich muss nicht jemanden dabei haben, der mir ihre Bilder erklärt“, sagt Werner Kleine. „Ich erkenne etwas, es sind Bilder für Nah und Fern. Ich kann mit diesen Bildern auf Reisen gehen.“ Je länger wir sie betrachten, desto mehr ist auf und in ihnen zu sehen, alles steht miteinander in Verbindung, nichts ist zufällig. Dabei sprechen sie immer direkt, so als seien sie spontan entstanden. Die Künstlerin arbeitete jedoch mehr als zwei Jahre an den Bildern.
In der heutigen Öffentlichkeit konfrontiert die Citykirche mit der Ungeheuerlichkeit und Unausweichlichkeit der Passion Christi. Neben den Bildern der Reproduktionen wird ein „herausfordernder Claim“ zum Nachdenken anregen, aufhalten. Ein QR-Code kann mit entsprechenden Applikationen für moderne Smartphones eingescannt werden. Dieser führt zu einer mobilen Internetseite, die neben Informationen auch Online-Andachten bietet. Das Projekt „TalPassion“ kann so von einzelnen wie von Gruppen erlebt werden – vor Ort in der Stadt, zu Hause, im Büro oder am Arbeitsplatz.
Gisela Schmoeckel

Fotos: Christoph Schoenbach