Glückliches Zusammenspiel

Ein Gemeinschaftsprojekt der Bayer-Kulturabteilung, der Wuppertaler Bühnen, der Kantorei Barmen-Gemarke, des Barockorchesters „l‘arte del mondo“ und des Freundeskreises Wuppertal-Beer Sheva feiert das 40-jährige Bestehen der Städtepartnerstadt mit einem Tanzabend im Opernhaus

Am Anfang stand der Wunsch von Wolfgang Kläsener, Künstlerischer Leiter der Kantorei Barmen-Gemarke, nach langer Zeit einmal wieder die „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach aufzuführen, allerdings nicht im allzu üblichen Gewand, sondern ein bisschen spektakulärer. Was das genau heißen sollte, war noch gar nicht klar. Sicher war aber, dass man dafür Partner braucht, die auch finanziell unterstützen können. Also wandte sich Kläsener an die Kulturabteilung des Chemiekonzerns Bayer.

Dort konnte sich Musikreferentin Carolin Sturm gleich für die Idee begeistern – wobei ihr der Tanz als neues Gewand einfiel. Doch wenn Bayer Kultur das unterstützen sollte, musste schon eine internationale Strahlkraft von der Aufführung ausgehen.

Wie es der Zufall wollte, erfolgte zu dem Zeitpunkt ein Wechsel im Vorstand der Kantorei: Arno Gerlach, zudem Vorsitzender des Freundeskreises Wuppertal-Beer Sheva, übernahm den Vorstand – und damit war dann auch klar, wo die Internationalität zu finden ist, nämlich in Israel. Ein wunderbarer Zufall ist, dass im kommenden Jahr gleichzeitig das 40-jährige Bestehen der Städtepartnerschaft gefeiert werden kann.

In Israel gibt es passenderweise auch eine große, sehr interessante Tanzszene, wie Carolin Sturm betont. Weil sich der Zusammenschluss die ganz großen Namen wie die Batsheva Dance Company nicht leisten kann, fiel der Blick auf Tamir Ginz und seine Kamea Dance Company – einer der aufstrebenden Choreografen des Landes, der in Beer Sheva geboren wurde.

Er hat nach seiner Ausbildung selbst als Tänzer in dem berühmten israelischen Ensemble von 1991 bis 92 getanzt. Ginz ist jedoch nicht nur Tänzer, Choreograf und Tanzlehrer, sondern hat auch einen Abschluss in englischer Sprachwissenschaft, Literatur und Soziologie an der Haifa-Universität erlangt.

2002 gründete Ginz die Kamea Dance Company gemeinsam mit Danielle Schapira, die ihren Sitz in Wuppertals Partnerstadt Beer Sheva hat. Ginz fungiert dabei als künstlerischer Leiter und Choreograf, dem zwölf Tänzerinnen und Tänzer zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten: „Er erfüllt alles, was wir wollten“, sagt Sturm.

Ginz‘ Choreografien sind modern und zeitgenössisch und er wird als Jude sicherlich einen anderen Blick auf das zutiefst christlich geprägte, barocke Werk Bachs werfen. Dafür habe Ginz bereits einen Kurs über christliche Theologie an der Universität in Beer Sheva belegt, berichtet Sturm. Daneben erhofft sie sich einen weiteren innovativen Ansatz, denn ein wichtiger Bestandteil seiner Choreografien ist das Lichtdesign.

Auch wenn Kläsener nicht unbedingt zuerst an Tanz bei der Umsetzung der Matthäus-Passion gedacht haben mag, ist dies für ihn auf jeden Fall ein Weg, um junge Menschen zu erreichen, die sich immer weniger in der christlichen Konnotation auskennen. Damit könne man vielleicht „neue Echos auslösen, neue Bezüge schaffen“. Denn er geht davon aus, dass die Aufführung „ganz anders wird, als wir es bisher in unseren Herzen und Köpfen hatten“.

Das fängt schon damit an, dass das Stück von drei Stunden auf „tanzbare“ 75 Minuten gekürzt werden musste. Und Ginz verrät im Heft zum Tanzabend bereits, dass sein Ballett in der Zukunft spielen wird, „irgendwo und irgendwann nach der Apokalypse: In einer Zeit, in der die Menschen neue Freundschaften aufbauen, neue Normen und Regeln zur Orientierung aufstellen, neue Anführer und eine neue Ordnung finden müssen. In dieser futuristischen Vision hallt der Geist der Vergangenheit wider, greift Ideen und Motive der traditionellen Handlung auf“.

Auch Werner Ehrhardt, künstlerischer Leiter des Leverkusener Barockorchesters „l‘arte del mondo“, ist gespannt auf die international verschiedenen Perspektiven auf das Stück, die einen auch selbst mit Abstand auf das Werk blicken lassen. So habe er am Anfang gedacht, dass er das Stück nie kürzen könne. Also hieß es für ihn zunächst: „Die eigene Perspektive verlassen und auf den anderen einlassen“.

Und so ist es beim Kürzen alleine auch nicht geblieben, denn auch die Reihenfolge der Stücke wurde vertauscht: Das Stück wird aus dem Rückblick heraus erzählt. Das mag für Kenner der Matthäus-Passion sicherlich ein Schreckmoment sein, wenn der Schlusschor diesmal am Anfang steht, aber auch sie sollten sich auf diese neue Perspektive einlassen, meint Sturm.

Dabei sind sich alle Beteiligten einig: Vor 30 oder auch 20 Jahren sei so ein Projekt, bei dem Juden ein christliches Werk aus dem Neuen Tes-tament vertanzen, wohl nicht möglich gewesen, beschreibt sie doch das Leiden und Sterben Jesu Christi nach dem Evangelium nach Matthäus.

Für das Judentum stellt Jesus keine relevante religiöse Gestalt dar. Heute wird zwar immer mehr wahrgenommen, das Jesus Jude war, für orthodoxe Juden macht ihn das jedoch zum Abtrünnigen, der über Generationen hinweg Not und Verfolgung über sein Volk gebracht habe. Andere sehen in ihm eher einen Rabbi oder Lehrer – aber nicht den Sohn Gottes oder Messias, weil er nicht als Erlöser des jüdischen Volkes gesehen wird.

Dementsprechend spielen auch die Schriften des Neuen Testaments im Judentum keine Rolle. Aber genau darin wird „den Juden“ als Kollektiv die Hinrichtung Jesus‘ zur Last gelegt, obwohl sie genau danach ein römisches Gerichtsverfahren inklusive römischer Todesstrafe war. Die Kreuzigung und deren Darstellung gilt im Umkehrschluss im Judentum als Wurzel des modernen Antisemitismus.

Im Mittelpunkt des ersten Teils der Matthäus-Passion von Bach stehen die Mordpläne an Jesus, dessen Salbung, sein letztes Passahmahl und seine Gefangennahme. Im zweiten Teil geht es um das Verhör, die Verleugnung, Verurteilung und Verspottung sowie um Kreuzigung, Tod und Begräbnis.

Der Eingangschor besingt Klage, Trauer und Schuldbekenntnis – was man durchaus auch ans Ende stellen kann. Am Ende heißt es im Original „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ – was in der Tanzversion „Matthäus-Passion-2727. Neue Sichtweisen“ nun am Anfang stehen wird. So will Ginz der Frage nachgehen, was Leid aus der Geschichte heraus und für uns heute bedeutet.

Durch den Kunstgriff des Rückblicks soll die Geschichte zu einer des Neids, Verrats und der Machenschaften werden, die bis heute Allgemeingültigkeit besitzt. Einzelne Rückblenden greifen dabei einzelne Aspekte auf. So will Ginz auch kein narratives Ballett erzählen, sondern dem Betrachter viel Raum für seine eigene Interpretation lassen – und jungen Menschen die alte Musik leichter zugänglich machen. Nach derzeitigem Stand sollten möglichst auch die Solisten und der Chor in die Choreografie mit eingebunden werden.

Die verschiedenen Szenen sollen dabei laut Ginz Personen zeigen, die sich mit den wichtigen Themen des menschlichen Befindens in einer Welt auseinandersetzen, die ihre Werte verloren hat. Denn es sei (siehe oben) eine Zeit, in der Überlebende nach einem Zufluchtsort, nach Liebe und Glauben suchen. Und damit ist er trotz apokalyptischer Idee dahinter sehr nah an der Aktualität.

Foto: Kfir Bolotin/Kamea Dance Company, Beer Sheva, Israel

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