Lukas

Der erste Preis des ersten Kulturplus-Preises in der Kategorie Literatur/Kurzgeschichten ging an Marcus Kindlinger (Jahrgang 1987, auf dem Foto mit BB-Herausgeber Uwe E. Schoebler) aus Wuppertal

Die Kurzgeschichte „Lukas“ hat die Jury einhellig überzeugt. Sie gibt die gesellschaftliche Entwicklung wieder, ist hochaktuell und kommentiert dies humorvoll. Dabei ist die Sprache stimmig und schön. Innerhalb der Kurzgeschichte gibt es eine kontinuierliche Steigerung, die den Leser mitnimmt. Überzeugt hat die Jury zudem, dass die Geschichte sehr authentisch wirkt und dabei Empathie für beide Seiten zeigt. (Jurybegründung)

Früher mochte ich Lukas lieber. Man konnte sich richtig gut mit ihm unterhalten, über Politik, über gemeinsame Bekannte, über das Leben, ja, über Gott und die Welt eigentlich. Lukas war so ein Typ, mit dem man sich problemlos nur zu zweit auf ein Bierchen treffen und einfach stundenlang labern konnte. Wie gesagt, ich mochte ihn damals sehr gern.

Dann fingen irgendwann seine Geldsorgen an. Aber das war ja okay, schließlich kennt das jeder. Lukas wusste einfach nicht, was er tun sollte; er arbeitete ständig in miesen Gelegenheitsjobs, war Proband für irgendwelche Tests an der Uni, spendete Blutplasma, belästigte Passanten in der Fußgängerzone und so weiter.

Bis er dann durch einen seiner Jobs auf diese Agentur stieß, die ihn dafür bezahlte, ein bisschen Werbung in seinem eigenen Freundeskreis zu machen. Klang zwar seltsam, war aber am Anfang ziemlich stressfrei. Wir wussten ja alle Bescheid, wenn Lukas jede Viertelstunde grinste, mit seinen Augen rollte und irgendeinen Text aufsagte: Dass dieses oder jenes Bier so wunderbar erfrischend sei, dass diese oder jene Taschentücher die Nasenhaut ganz besonders schonen. So Zeug eben.

Wir fanden das eigentlich ganz lustig, und Lukas bekam sein Geld. Und nicht mal wenig: Er musste kein Blutplasma mehr spenden, nur noch hin und wieder Passanten belästigen; er wirkte ganz zufrieden.

Gut, nach einer Weile gingen einem die Werbesprüche schon auf die Nerven, vor allem, weil sie sich ständig wiederholten. Viermal hintereinander die nasenhautschonenden Taschentücher, das war schon ziemlich ermüdend – für uns zumindest. Allerdings nicht für Lukas, der seinen Text bei jedem Mal stoisch herunterleierte. Eigentlich „leierte“ er nicht mal; er sprach immer nach dem gleichen Muster, mit der gleichen Stimme, mit dem gleichen Enthusiasmus; wie ein richtiger Werbesprecher eben. Er gab sich richtig Mühe.

Natürlich hatten wir ihn schon direkt zu Beginn des Ganzen gefragt, warum er die Texte überhaupt aufsagte, wo wir doch unter uns waren. Er erzählte dann irgendetwas vom Vertrauensprinzip und von vertraglichen Pflichten, die er uns im Einzelnen nicht verraten dürfe; strengste Geheimhaltung und so weiter. Ich weiß auch nicht. Es wirkte eigentlich nicht so, als fühlte er sich beobachtet. Aber das Aufsagen seiner Textchen war ihm unheimlich wichtig.

Naja, egal; man gewöhnt sich ja an alles. Und ich mochte Lukas, und nach einiger Zeit fielen mir die Werbeunterbrechungen auch gar nicht mehr auf. Wenn er seine Texte aufzusagen anfing, nahm ich halt mein Handy und beschäftigte mich irgendwie damit, bis er fertig war und das Gespräch weitergehen konnte. Das schien ihn zwar ein bisschen zu stören; er hat aber auch nie etwas dagegen gesagt; und ich sah überhaupt nicht ein, seinem Gerede unnötig Beachtung zu schenken.

Im Laufe der Zeit konnte ich die Werbung so gut verdrängen, dass es mir zuerst überhaupt nicht auffiel, als Lukas die Unterbrechungen plötzlich sein ließ. Es fiel mir eigentlich erst im Nachhinein auf. Ich weiß noch, wie ich mich einmal vielleicht zwei, drei Stunden mit ihm unterhalten habe, und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass in unserem Gespräch etwas schieflief.

Lukas fing an, unser Gespräch vollkommen abstrus zu verdrehen. Wir sprachen über Trump und Putin, und plötzlich kam er von da auf ein Mittel gegen Sodbrennen. Und dann auf einen neuen Schokoriegel oder so etwas in der Art. Und wenn er einmal bei so einem Thema war, ließ er überhaupt nicht locker. Ich sagte Putin, er sagte Putenwurst, fettarm, frisch und lecker. Ich sagte Freihandelsabkommen, er sagte Mehr Freiheit mit der Bahncard, Mobilität ganz neu erleben. Und so weiter. Es war, als würden sich die Werbeunterbrechungen jetzt durch das ganze Gespräch hindurchfressen.

So richtig schlimm wurde es mit Lukas aber erst, als er anfing, Sachen, die man ihm irgendwann einmal im Privaten erzählt hatte, also ganz persönliche Dinge, für Produktempfehlungen zu verwenden. Ich hatte ihm zum Beispiel einmal erzählt, dass mein linkes Bein seit meiner Kindheit ein bisschen kürzer ist als mein rechtes. Kein großes Geheimnis, klar, aber etwas Persönliches. Und plötzlich fing Lukas an, mir ständig Einlagen für meinen linken Schuh zu empfehlen.

Ich sagte ihm, ich wolle nichts davon wissen, ich hätte solche Einlagen probiert und fände sie nur störend und unnötig, aber er war nicht davon abzubringen. Einlagen von Ultrafoot, erzählte er mir wieder und wieder, Einlagen von Ultrafoot seien etwas ganz Neues, mit spezieller Gelbeschichtung, mit anderen Einlagen überhaupt nicht vergleichbar. Von Orthopäden empfohlen, von Orthopäden selbst getragen, und überhaupt, der Tragekomfort. Und so weiter. Und es waren nicht nur die Einlagen, es waren tausend andere kleine Dinge, jeder noch so kleine Mist, den ich ihm über die Jahre erzählt hatte, wurde irgendwie in Kaufempfehlungen verwurstet.

Da fing ich schon an, mich seltener mit Lukas zu treffen. Nicht nur ich, auch andere aus seinem Freundeskreis. Und für Lukas fingen dadurch wohl die Geldprobleme wieder an; er war mit seiner Werbung ja auf uns angewiesen. Lukas war also vollkommen verzweifelt, total fertig. Er wollte mich immer wieder treffen, aber ich wich ihm aus, sagte, nein, sorry, ich hätte keine Zeit, müsse Arbeiten, hätte Prüfungsstress. Dann rief er mich einmal mitten in der Nacht an, heulte ins Telefon, erzählte von seinen Geldsorgen und seiner furchtbaren Kindheit, dass er immer wieder verlassen worden sei, von seinen Eltern, von Freundinnen und Freunden. Dass er furchtbar einsam sei.

Er redete und schluchzte herum und ich fing an, mir richtig Sorgen zu machen. Dann sprach er davon, sich umbringen zu wollen. Er werde sich umbringen, sagte er, er werde seinem Leben ein Ende setzen, wenn ich nicht endlich akzeptierte, dass Ultrafoot-Einlagen wirklich den wirklich besten Tragekomfort für Leute wie mich böten. Und dann ging es weiter mit nasenhautschonenden Taschentüchern, mit veganem Hackfleisch aus Reisprotein und so weiter.

Ich weiß wirklich nicht, ob es richtig war, aber ich habe einfach aufgelegt. Das war mir einfach zu viel. Er hat dann noch mehrmals versucht, mich anzurufen, aber ich habe mein Handy einfach ausgemacht und mich schlafen gelegt.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie ein totales Arschloch; ich dachte mir: Was, wenn Lukas sich wirklich umgebracht hat? Ich machte mein Handy wieder an und bekam sofort einen Anruf von einer mir unbekannten Nummer. Ich ging dran, und die Stimme am Telefon sagte, dies sei die Polizei und ob ich einen Lukas kannte und ich sagte ja. Dann hieß es, Lukas brauche meine Hilfe, ich müsse jetzt sofort 20 Becher von einem neuen Zitronenjoghurt… Es war wieder Lukas, der seine Stimme verstellt hatte. Ich legte wieder auf und ging für die nächsten Tage nicht an mein Handy.

Ich habe mich aber immer wieder nach Lukas erkundigt und wusste, dass er sich nichts angetan hatte. Letzte Woche sah ich ihn dann nach langer Zeit einmal wieder, da stand er als Smartphone verkleidet in einer Fußgängerzone und brüllte Passanten an. Ich bin nicht zu ihm gegangen. Wie gesagt, früher mochte ich Lukas lieber.

Foto: Michael Mutzberg