Älter als die Eisenbahn

Als Karren noch in Gleisen fuhren: Spurrillen sind ein ganz besonderes Bodendenkmal

Zwar ist die Aussicht herrlich, doch der Blick geht unwillkürlich nach unten. Denn der schiefrige Felsboden auf dem Weg sieht aus wie zwei in der Bewegung erstarrte sanfte Wellen. Auf den Kämmen wuchert Moos und Gras, in den Tälern laufen tiefe Rillen. Und die haben es in sich: Technisch präzise, manchmal bis zu 30 Zentimeter tief ins Gestein eingetieft, wirken sie wie Eisenbahngleise. Und es scheinen tatsächlich Gleise zu sein, negativ in den Boden gedrückt wie bei einer Holzeisenbahn für Kinder – manchmal als tiefe Rinnen, so, als sei eine Lokomotive über den Fels gerast, und manchmal auch nur als leichte Kratzer an der Oberfläche, als sei der Fels zu hart für einen bleibenden Eindruck gewesen.

Oben, wenn der Bergrücken überschritten wird, verwandelt sich der Gleisweg zum Pfad, der sich zwischen Ginsterbüschen und dann durch den Wald schlängelt. Dort bedeckt Humus die Gleise. Der Ort dieses ungewöhnlichen Bodendenkmals: auf dem Wanderweg T des Sauerländischen Gebirgsvereins im Dreieck zwischen Immicke, Altenothe und Wiedenest, alles Ortsteile von Bergneustadt im Oberbergischen Kreis.

Ein Fels, im wahrsten Sinne steinhart – und darin, wie die Furchen, die eine heiße Gabel in Butter hinterlässt, die deutlichen Abdrücke der Räder eines Wagens! Als wäre der steinharte Untergrund eben gerade noch nasser Schlamm oder frisch gefallener Schnee gewesen, in dem sich Räder abzeichnen, so wirken Karrenspuren oder Radgleise im Boden.

Das liest sich wie eine Idee aus einem Science-Fiction-Roman, und doch kann man überall, wo seit der Erfindung des Karrens mit Eisen beschlagene Holzräder über bloßen Fels liefen, solche Karrenspuren finden – auch an zahllosen Orten in Deutschland. Dennoch hat der Schweizer Hobbyforscher Erich von Däniken aus ihrem Vorkommen bei phönizischen und römischen Steinbrüchen in Malta eines seiner Rätsel der Außerirdischen gemacht!

Obwohl die eigentlichen Eisenbahnen erst im 19. Jahrhundert erfunden wurden, gehören solche Gleisstraßen doch zu den ältesten Verkehrswegen der Menschheit. In Babylon fuhren von Ochsen gezogene Festkarren als eine Art Eisenbahn. „Um den Festzug ungestört durchführen zu können“, schreibt Albert Neuburger 1919 in „Die Technik des Altertums“, „mußte (man) vor allem dafür sorgen, daß die kostbaren Festwagen ohne Schaden zu leiden ungestört dahinfahren konnten. Dies erreichte man dadurch, daß man in die Straßen die Geleise einschnitt, deren Entfernung der Spurbreite der Wagenräder entsprach. Derartige Geleise an alten Feststraßen sind heute noch in ziemlicher Menge erhalten. […] Wir haben also hier gewissermaßen die Vorläufer der Straßenbahn.“

Auch die Römer schlugen oft Gleise in die Felsoberfläche ihrer Passstraßen, etwa in den Alpen, damit sich ein hölzerner Karren (dessen Räder mit Ketten zusammengebunden waren) wie ein Schlitten leichter über eine Schräge ziehen ließ. Solche Felsuntergründe erhielten oft Querrillen zu den Gleisen, damit die Zugtiere besser Tritt fassen konnten.

Bei den meisten Straßen entstanden Gleise allerdings im Laufe der Zeit von selbst, weil sich die Räder in den anstehenden, durch die Nutzung als Straße bloßgelegten Fels schliffen. Die Räder der Karren sind stets an derselben Stelle, die Hufe der Zugtiere aber treten gleichmäßig verteilt auf und hinterlassen deshalb keine Trittspuren, sondern höchst selten bloß eine flache Mulde zwischen den Gleisrillen.

Manchmal – etwa bei Kalk – war der Felsuntergrund nach Entfernung einer Deckschicht so feucht und weich, dass die Karren sogar ganz tief einsanken. Eine Voraussetzung für das Entstehen solcher Radspuren: Die für den Transport eingesetzten Holzkarren hatten – lange schon vor der EU-Normierungswut – einheitliche Spurbreiten. Sonst wären die Gleisrillen nie entstanden.

Gleisstraßen sind daher einer der häufigsten und dennoch unbekanntesten Überreste unserer Vorfahren. Es gibt kaum einen Ort in Europa und in Deutschland, von dem aus man nicht innerhalb einer halben Stunde Autofahrt ein Exemplar besuchen könnte. Und Beispiele für dieses Phänomen gibt es auch in der Region um Wuppertal und Solingen.

Ulrich Magin

Foto: Ulrich Magin

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